Yoga als Antwort auf Stress
Die Neukonfiguration des Geistes als Weg aus dem Leidensdruck, hin zu einem authentischen und selbstbestimmten Leben: ermutigende Hinweise zur mentalen Umstrukturierung mit Hilfe von Yogakonzepten.
Wenn wir uns entscheiden, an einem Yogakurs teilzunehmen, dann meist deshalb, weil wir das Gefühl haben, dass irgendetwas in unserem Leben nicht stimmt (z.B. die „Work-Life-Balance“) und dass es so nicht weitergehen kann. Die Entscheidung für den Yogaweg wird in den allermeisten Fällen sehr bewusst getroffen, denn wir verbinden Yoga mit einer heutzutage zwar (sehr) körperorientierten, aber dennoch ganzheitlichen Übungspraxis. Fast alle Kursteilnehmer erhoffen sich, dass Yoga ihnen hilft, sich wieder besser entspannen zu können, wieder zu Kräften zu kommen und dem Leben Sinn und Ausrichtung zu geben. In der Tat kann der Yoga alle dieser Erwartungen erfüllen, sofern wir bereit sind, die Selbstverpflichtung einer regelmäßigen (zumindest kurzen) Übungspraxis auf uns zu nehmen und dabei Elemente der Geistesschulung auf der Grundlage der Yogaphilosophie mit einzubeziehen. Der Yoga kann und will diese Erwartungen erfüllen, weil er in all den Jahrhunderten innerhalb der verschiedenen Traditionslinien genau dafür geschaffen worden ist: Menschen zu helfen, ihr selbst erschaffenes Leid hinter sich zu lassen und ein freies, selbstbestimmtes Leben in Verbundenheit mit sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt zu leben. Alle Meister des Yoga und ihre Schriften künden zutiefst von der Überzeugung, dass Menschen ihr Leben lang in der Lage sind, sich zu verändern, indem sie die Kräfte in ihnen, die ihnen schaden, zuerst als solche erkennen und mit den geistigen Einstellungen „überschreiben“, die ihnen guttun. Man könnte auch sagen, dass der Yoga seit jeher die „selbst gesteuerte Neuroplastizität unseres Gehirns“ aktiv nutzt, so der Neurologe und Meditationslehrer Rick Hanson, bzw sich die Rekonfiguration des eigenen Geistes zum Programm gemacht hat.
Alle Methoden, die die vielen Yogatraditionen entwickelt haben, deuten darauf hin, dass sie zutiefst auf die Lernfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Geistes vertrauen – und auf die tiefe Sehnsucht der Menschen, zu ihrem wahren Wesenskern zu finden, aus dem heraus sie ein authentisches und selbstbestimmtes Leben führen können.
Viveka – Unterscheidungsfähigkeit
Der Yoga hat viele Konzepte der Geistesschulung entwickelt, die helfen, Ruhe und Stabilität im Geist zu begründen. Als eine der wichtigsten Methoden dafür wird die Entwicklung einer besonderen Form von Unterscheidungsfähigkeit angesehen, die im Yoga Viveka genannt wird. Viveka entsteht dann, wenn wir beginnen, zum Zeugen unseres eigenen Fühlens, Denkens und Handelns zu werden, und uns dadurch angewöhnen, über uns selbst nachzudenken. Unterscheidungsfähigkeit ist wie eine Art Sinn und verleiht uns die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Wohltuende vom Schädlichen, das Stresslindernde vom Stresserzeugenden zu unterscheiden. Sie ist uns von der Evolution als Funktion unseres Stirnhirns mitgegeben worden, ist aber – wie auch die meisten unserer anderen Sinne – in der Regel nicht sehr entwickelt. Im Yoga lernen wir nun systematisch, diesen „inneren Sinn“ zu trainieren und immer weiter zu verfeinern.
Wir brauchen Viveka gleichermaßen in der achtsamen Wahrnehmung unseres Körpers wie auch unseres Geistes. Die allmähliche Ausdifferenzierung unserer Körperwahrnehmung bewirkt, dass wir immer feinfühliger für uns selbst werden. Das bedeutet konkret, dass wir uns dadurch zunehmend ermöglichen, zu erkennen, wann und wo eine Stressreaktion im Körper startet und wir dadurch beginnen, uns anzuspannen. Diese Achtsamkeit erlaubt uns, immer früher und auch immer genauer darauf zu reagieren und bereits dann eine „Gegenströmung“ (Pratipaksha) einzuleiten, wenn die Stressreaktion noch in den Anfängen steht. Damit können wir verständlicherweise sehr wirksam einer Chronifizierung körperlicher Stresssymptome entgegenwirken.
Mentale Umstrukturierung
Als besonders wirksam gilt es im Yoga, dass man lernt, immer genauer zu unterscheiden, welche unserer inneren Einstellungen, welche unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen und welches Verhalten in uns Stress erzeugen, und bei welchen Einstellungen, Gedanken etc. dies nicht der Fall ist.
Die Yogameister wussten offensichtlich seit frühester Zeit, wie stark Bilder auf unseren Geist wirken, denn die Sprache des Yoga ist fast immer bildhaft. Sie ist so beschaffen, dass sie neben der Information auch noch Gefühle transportiert. Ein gutes Beispiel ist der Begriff Duhkha. Er wird zumeist kurz und knapp mit „Leid“ übersetzt, heißt aber tatsächlich „dunkler, enger Raum“ bzw. „das, was den inneren Raum verengt“ (Sriram 2007:268), denn der Begriff setzt sich zusammen aus dus = dunkel, eng und kha = Raum. Wenn wir uns vorstellen, dass wir uns selbst in einen solchen Raum manövriert haben, werden wir spüren und damit wissen, dass es uns darin nicht gutgehen kann und dass wir alles tun müssen, um ihn wieder zu verlassen. Das Gegenkonzept dazu ist Kaivalya. Dieser Begriff, der das Ziel des Yogaweges umschreibt, wird meist einfach mit „Freiheit“ übersetzt, meint aber eigentlich „Alleinsein“ und damit unsere Fähigkeit, so in uns zu ruhen und mit uns in Frieden zu sein, dass wir die Freiheit haben, uns selbst genügen zu können. Das ist der Gegenentwurf zur Bedürftigkeit, zu allen unseren Erwartungen und unserem Begehren.
Mit Viveka trainieren wir, unseren mentalen Mustern immer genauer und feiner auf die Spur zu kommen: Wir lernen, uns selbst zu erkennen und uns in unserem Gewordensein und Wirken zu verstehen. Diese Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung dafür, dass wir sinnvolle und heilsame Veränderungen einleiten können, also uns von Duhkha abwenden und dem Sukha in unserem Leben mehr Raum geben. Und das fein differenzierende Selbstgewahrsein ist auch die Grundlage dafür, dass wir erkennen können, welche Orientierungs-, Verhaltens- und Handlungsmuster sich dann auch in unserem täglichen privaten und beruflichen Umfeld als hilfreich und vor allem als belastbar erweisen bzw. was uns ermöglicht, neues Fühlen, Denken und Verhalten sensibel an die jeweiligen Bedingungen anzupassen. Insofern könnte man sagen, dass uns die Entfaltung von Viveka in zunehmenden Maße kompetent macht, mit schwierigen – normalerweise Stress erzeugenden – Situationen so umzugehen, dass wir eine angemessene und für alle Seiten befriedigende Stressantwort zu geben vermögen. In diesem Sinne stärkt die Entfaltung von Viveka unser Selbstmanagement und damit unsere Selbstwirksamkeit; beides Faktoren, die uns stressresistent und sogar resilient machen.
Das rechte Maß für unsere Bemühungen finden
Patanjali beschreibt im Yoga-Sutra sehr genau den Prozess des Erkennens. Er erläutert, dass sich wahre, umsetzbare und im Stress belastbare Erkenntnis immer schrittweise entfaltet und dass es sich zuerst um ein oberflächliches Wissen (Vitarka) handelt, das dann jedoch, wenn wir beginnen, es wirklich zu verinnerlichen, zu einem tiefen Wissen (Vichara) wird. Die Ergründung des eigenen Selbst braucht stetes Bemühen (Abhyasa) und Einüben, da alle Einsichten immer zunächst nur kurzfristig und vorübergehend aufleuchten und deswegen in aller Regel für unser gewohntes Verhalten und Handeln folgenlos bleiben. „Eine Übungspraxis wird nur dann Erfolge zeigen, wenn wir sie über einen langen Zeitraum ohne Unterbrechungen beibehalten, wenn sie von Vertrauen in den Weg und einem Interesse, das aus unserem Inneren erwächst, getragen ist“, heißt es im Sutra I.14 (Desikachar 1997.31). Damit sagt uns der Text, dass wir idealerweise unsere Begeisterung für unseren inneren Wandlungsprozess zur Triebfeder unseres Bemühens machen. Wenn wir uns dafür begeistern, unseren Geist zu schulen und uns dadurch als Persönlichkeit ganz neu zu erfinden, dann wird dieser Wandel in einer Atmosphäre von interessierter Gelöstheit und frei von Erwartungsdruck geschehen können. Diese innere Haltung wird im Yoga Vairagya (wörtlich „frei von Gier“, Gelassenheit, Gleichmut) genannt und gilt als eine der heilsamsten und förderlichsten Geistesqualitäten überhaupt.
Die Konzepte und Methoden des Yoga fördern also eine Umdeutung unserer Bewertungsmuster und eine Veränderung unserer inneren Haltungen auf der Grundlage von Klarheit und Gelassenheit, und nicht weil wir „sollten“ oder „müssen“.
Vertrauen entwickeln
Viele Menschen erfahren Stress, weil die Erfahrungen, die sie bisher in ihrem Leben gemacht haben, in ihnen negative Spuren hinterlassen haben. Dass wir solche Erfahrungen machen, hat jedoch in vielerlei Hinsicht gar nichts mit dem Erlebten an sich zu tun, sondern vielmehr damit, wie wir es bewerten. Wenn wir Glaubenssätze verinnerlicht haben wie „Das Leben meint es nicht gut mit mir“, „Nie bekomme ich das, was ich wirklich brauche“, „Niemand akzeptiert mich so, wie ich bin“ usw., wenn wir uns als Opfer der Ereignisse sehen oder uns als der Willkür anderer Menschen ausgeliefert erfahren, dann entwickeln wir zwangsläufig innere Einstellungen und Haltungen, die uns vorsichtig, misstrauisch und manchmal sogar feindselig werden lassen. Worum es dabei eigentlich geht, erläutern Sylvia Kéré Wellensick und Joachim Galuska, beide Experten in psychosomatischer Therapie und Coaching in ihrem Buch „Resilienz, Kompetenz der Zukunft“ (Beltz Verlag 2014): „Aber es ist eigentlich kein Misstrauen, sondern eine zerrüttete und gebrochene Basis der Persönlichkeit, die in sich selbst zerrissen und gespalten ist und keinen inneren Halt besitzt. Ohne Urvertrauen leben wir Menschen in einer ständigen Bedrohung, uns zu verlieren, so dass das Leben mehr einer Art Überlebenskampf oder einer Abwehr des Lebendigen in uns gleicht. Das Urvertrauen ist die Basis dafür, dass wir ein angemessenes Vertrauen in uns selbst und in andere Menschen gewinnen können“. (S.65) Sie betonen, dass dagegen „Selbstvertrauen oder ‚personales Vertrauen‘ der wichtigste Faktor für ein gesundes Leben ist, wie uns die moderne Gesundheitspsychologie lehrt. Gesundheit – nicht nur seelische Gesundheit – basiert auf dem sogenannten ‚Kohärenzsinn‘, dem Vertrauen darin, dass ich auf mein Leben Einfluss nehmen kann.“ (ebd.) Auch Patanjali erachete die Fähigkeit, vertrauen zu können, als unverzichtbar, um in schwierigen Zeiten nicht den Mut zu verlieren. „Es ist Vertrauen, das uns die notwendige Kraft gibt, Widerstände erfolgreich zu überwinden und weiterzugehen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren“, heißt es entsprechend in Sutra I,20 (Desikachar 1997:37). Wichtig ist es zu wissen, dass wir auch dann wieder eine vertrauensvolle Sicht auf uns selbst und auf das Leben entwickeln können, wenn es uns im Laufe unseres Gewordenseins verlorengegangen ist. Das wird möglich, weil sich unser Gehirn in seinen Strukturen und in der Art, wie es sich vernetzt, entsprechend den Erfahrungen bildet, die wir machen. Wenn wir also beginnen, das Erfahrene in einen sinnstiftenden Rahmen einzuordnen, ein Problem in eine Herausforderung umzudeuten und uns selbst dabei zu vertrauen, dass wir mit einer Situation schon irgendwie klarkommen können, dann werden wir auch in schwierigen Situationen interessante Erfahrungen machen, die uns das Gefühl geben, an ihnen wachsen zu können.